Farbenlehre der Macht

WAHLKREISE In jüngsten Umfragen zur Bundestagswahl liegt die CDU weit vorn – für die SPD hingegen könnte es schwer werden, überhaupt irgendwo die Mehrheit zu bekommen. Spannend wird es vor allem in den Bezirken Mitte und Pankow

■ Vor vier Jahren waren in Berlin 23 Bundestagssitze zu vergeben, zwölf davon als Direktmandate über die Wahlkreise, der Rest über die Landeslisten: Über sie rücken Kandidaten ins Parlament, wenn ihre Partei nicht schon mit den Erststimmen genauso viele oder mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr Sitze über die Zweitstimme zustehen. Am 22. September sind voraussichtlich 24 zu besetzen, weil das Parlament größer wird.

■ 2009 lag die CDU mit 22,8 Prozent vor Linkspartei und SPD mit je 20,2 und Grünen mit 17,4 Prozent. Die FDP, die zwei Jahre später mit nur 1,8 Prozent aus dem Abgeordnetenhaus flog, kam auf 11,5 Prozent. An der Wahl beteiligten sich vor vier Jahren 70,9 Prozent der 2,47 Millionen Wahlberechtigten, weit mehr als bei der Berlinwahl 2011 mit 60,2 Prozent . (sta)

VON STEFAN ALBERTI

Blau. Das ist die Farbe, die nach jetzigen Umfragen die bunten Bildchen mit den Ergebnissen beherrschen wird, wenn am 22. September in Berlin nach der Bundestagswahl ausgezählt wird. Blau, nicht das klassisch konservative Schwarz, ist nämlich bei der Landeswahlleiterin die Farbe für die CDU. Und die wird derzeitigen Prognosen zufolge jede dritte Berliner Zweitstimme abräumen und sechs der zwölf Wahlkreise gewinnen. Läuft es weiter schlecht für die SPD und gut für die Grünen, wird auf der Wahlkreiskarte zum ersten Mal überhaupt das Rot der Sozialdemokraten fehlen.

Lagen bei der Bundestagswahl 2009 vier Parteien fast gleichauf bei rund 20 Prozent, sind die Verhältnisse nun völlig anders. Die CDU ist in jüngsten Umfragen weit vorn und bekäme in Berlin über 30 Prozent, wenn schon jetzt Wahlen wären. Die SPD hingegen liegt erneut nur knapp über 20, dicht gefolgt von den Grünen mit 19 Prozent. Die Linke ist auf 15 Prozent abgerutscht.

Verändert ist aber auch die Lage in den zwölf Wahlkreisen, was vor allem an den Grünen liegt. Einen Wahlkreis zu gewinnen, schmückt eine Partei besonders, weil es dann „ihrer“ ist, ihr ureigenes Territorium.

Spannung gibt es aber nur in sechs Wahlkreisen: Denn in Friedrichshain-Kreuzberg beziehungsweise Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf dominieren Grüne und CDU derart, dass ihre Kandidaten dort vermutlich auch ohne jeglichen Wahlkampf gewinnen würden.

Vor der Konkurrenz

Gleiches gilt für die Linkspartei in den drei Ostbezirken Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick. Gesine Lötzsch, die erneut in Lichtenberg antritt, machte zwar als Bundesvorsitzende der Linken eine immer weniger gute Figur. Aber mit 47 Prozent lag sie bei der vergangenen Bundestagswahl so weit vor der Konkurrenz, dass sie auch größere Verluste wegstecken könnte.

Die CDU, die 2009 fünf Direktmandate holte, kann sich sichere Siege in vier Wahlkreisen ausrechnen: Reinickendorf, Spandau, Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg. In Charlottenburg-Wilmersdorf und Neukölln haben die Christdemokraten zumindest sehr gute Chancen. Das gilt umso mehr, weil die SPD in Charlottenburg ohne ihre renommierte Haushaltspolitikerin Petra Merkel auskommen muss – und selbst die gewann den Wahlkreis 2009 mit weniger als 2 Prozentpunkten Vorsprung.

Für die SPD wird es ohne einen Erfolg in der City West eng. Denn dann bleiben ihre beiden letzten Chancen auf ein Direktmandat – und auf einen roten Farbtupfer auf der Ergebniskarte – die Wahlkreise Mitte und Pankow. Dort wird es voraussichtlich die interessantesten Entscheidungen geben. Das gilt umso mehr, weil dort der Gegner die Grünen sind, mit denen die SPD doch nach einem Wahlsieg koalieren will. Die Grünen nämlich sehen in Mitte und Pankow die Chance, neben dem bundesweit bislang einzigen grünen Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg weitere Sitze direkt zu gewinnen. Hier lohnt ein genauerer Blick.

Der Wahlkreis Mitte

Der Wahlkreis ist zwar als Regierungsbezirk der prestigeträchtigste überhaupt, zugleich aber mit den Prachtbauten von Parlament und Kanzleramt einerseits und den Geringverdienerquartieren im Wedding andererseits so heterogen wie wenige. Hier konnte sich 2009 zwar die SPD-Kandidatin Eva Högl durchsetzen. Was die Grünen jedoch hoffen lässt, ist die Tatsache, dass die Sozialdemokraten bei den Zweitstimmen hinter ihnen lagen, und zwar deutlich.

Die Analyse im Grünen- Landesverband: Offensichtlich müssten sich manche Grünen-Wähler erst daran gewöhnen, dass ihre Partei nicht nur gute Ergebnisse erzielen, sondern auch Wahlkreise gewinnen können. Mancher Grünen-Anhänger scheint noch geprägt vom klassischen Stimmensplitting – Zweitstimme Grüne, Erststimme SPD.

Die grüne Attacke auf den Wahlkreis Mitte führt einer, den viele schon abgeschrieben hatten. Özcan Mutlu, langjähriger Bildungsexperte der Grünen, der bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus mehrfach einen der Kreuzberger Sitze gewann, wäre gern Nachfolger von Hans-Christian Ströbele als Direktkandidat in Friedrichshain-Kreuzberg geworden. Nun tritt Ströbele ohnehin noch mal an, doch bereits vorher machten die führenden örtlichen Kräfte Mutlu klar: Du hast bei uns keine Chance. Mutlu fühlte sich weggemobbt – er sei den Linken zu wenig dogmatisch gewesen.

Mutlu sah eine neue Chance, als sein Parteifreund Wolfgang Wieland, der 2009 gegen SPD-Frau Höhl angetreten war, ankündigte, aus dem Bundestag auszuscheiden und auf eine erneute Kandidatur zu verzichten. Mutlu bewarb sich im Kreisverband Mitte, mobilisierte Anhänger für die Abstimmung und setzte sich durch. Dass es insgesamt fünf Bewerbungen gab, macht deutlich, wie sehr die Grünen in Mitte tatsächlich einen Erfolg für möglich halten.

Mutlu will in dem vielschichtigen Bezirk mit einer Doppelstrategie punkten: Die bildungsnahen Wähler möchte er mit seinem Schwerpunkt Bildung für sich gewinnen, die vielen Wähler mit Migrationshintergrund über seine türkische Abstammung. Eine „biodeutsche“ – Mutlus Wortwahl für Eingeborene – grüne Kandidatin zum Abgeordnetenhauswahlkampf 2011 berichtete aus ihrer Kampagne, Mutlu habe ihr bei Migranten viele Türen geöffnet. Auf über 20.000 Stimmen schätzt Mutlu das Potenzial bei den wahlberechtigten Migranten, die zuletzt gar nicht gewählt hätten. „Die kann ich erreichen“, war von ihm bei seiner Bewerbung zu hören. Für Mutlu wäre es nach dem Quasirauswurf aus Friedrichshain-Kreuzberg eine große Genugtuung, den dortigen Grünen das Alleinstellungsmerkmal des einzigen grünen Direktwahlkreises zu nehmen. Das würde er nie zum Zitieren sagen, schon allein aus Parteiräson nicht. Aber es ist bei ihm immer wieder rauszuhören.

Sein Problem ist bloß, dass die SPD-Abgeordnete Högl im Wahlkreis so gut ankommt, dass das auch die Grünen nicht bestreiten können. Außerdem ist sie die designierte Spitzenkandidatin der Berliner SPD, was ihr zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit bringt. Zudem aber – und das ist noch viel entscheidender – hat Högl seit Monaten viel Medienpräsenz und ist zur besten Fernsehzeit regelmäßig in den Nachrichtensendungen zu sehen. Denn sie ist Obfrau oder Sprecherin der SPD-Fraktion im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Das große Medieninteresse daran wird durch den angelaufenen NSU-Prozess in München eher steigen als abnehmen.

Högl sieht sich trotzdem nicht als sichere Siegerin. Das macht schlauerweise ohnehin kein kluger Bewerber, weil es manchem Anhänger die Motivation nehmen könnte, am Wahltag auch wirklich ins Wahllokal zu gehen. „Ich stelle mich auf einen harten Wahlkampf ein“, sagt sie, und dass es alles andere als einfach werde. Und um erst gar nicht in den Verdacht zu kommen, sich nur beim großen Aufreger NSU zu engagieren und die tagtäglichen Probleme im Wahlkreis zu vergessen, erzählt sie sofort, dass sie bei ihren Veranstaltungen immer das Thema der steigenden Mieten anspreche. Mutlu muss zumindest ein Stückweit darauf hoffen, dass sich der gegenwärtig wenig positive SPD-Trend auch auf den Rückhalt für Högl auswirken wird.

Der Wahlkreis Mitte ist als Regierungsbezirk der prestigeträchtigste – zugleich aber so heterogen wie wenige andere

Der Wahlkreis Pankow

Das Gleiche gilt für den großen Wahlkreis im Norden Berlins, wo Andreas Otto für die Grünen gewinnen will. Pankow war mal sicheres Territorium der Sozialdemokraten, mehrfach siegte hier ihre Ikone Wolfgang Thierse. Doch schon beim vergangenen Mal reichte es nicht mehr für die SPD: 2009 lag am Wahltag Stefan Liebich von der Linkspartei vorne, früher Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Er profitierte dabei auch vom allgemeinen Stimmenhoch seiner Partei. Thierses Niederlage ermunterte manche in der Pankower SPD, den Bundestagsvizepräsidenten zum Abdanken zu drängen. Der verzichtete bekanntlich tatsächlich auf eine erneute Kandidatur, wenn auch nicht gerade erfreut.

Aus einem reibungslosen Übergang wurde aber auch aus einem anderen Grund nichts. Denn die Sozialdemokraten gaben kein gutes Bild ab, als sie zwar eine Basisbefragung organisierten, dann aber bei ihrer Delegiertenkonferenz nicht die Frau aufstellten, die dabei die meisten Stimmen bekam. Das war zwar legal, weil das Befragungsergebnis nicht bindend war, und doch nicht wirklich stimmig. Kandidat der Sozialdemokraten ist nun Klaus Mindrup, über lange Jahre als Fraktionschef und Abgeordneter im Bezirksparlament gut vernetzt.

Die Linkspartei schwächer als 2009, die SPD ohne Thierse und mit den Nachwehen eines ignorierten Basisvotums – all das kann den Grünen Otto hoffen lassen. Für ihn ist es zudem eine glückliche Fügung, dass das gerade meist diskutierte Thema der Berliner Politik, die steigenden Mieten und fehlenden Wohnungen, genau sein Fachgebiet ist. Otto ist nicht nur Sprecher seiner Fraktion für diesen Bereich, sondern auch Chef im Bauausschuss des Abgeordnetenhauses. Zudem sitzt er für die Grünen im Untersuchungsausschuss zum kaum minder großen Thema Flughafen BER.

Und nicht zuletzt kann er sich Chancen ausrechnen, als grüner Realo die vielen bürgerlichen Wähler des Bezirks anzusprechen. Beim Volksbegehren „Pro Reli“ 2009 war Otto der Einzige unter den Grünen im Abgeordnetenhaus, der im Parlament die Forderung nach einem gleichberechtigten Religionsunterricht unterstützte.

Sechs zu drei zu drei, so könnte die Karte mit den zwölf Berliner Wahlkreisen also am Abend des 22. September auf dem Bildschirm aussehen. Sechs Gewinnerinnen und Gewinner von der CDU, drei von den Linkspartei und drei von den Grünen, so stellt sich die Lage fast genau vier Monate vor dem Wahltag dar.

Wie schnell sich die Dinge ändern können, hat jedoch die Bundestagwahl 2005 gezeigt. Da lag die SPD zum selben Zeitpunkt bundesweit fast 20 Prozentpunkte zurück – und am Wahltag ebenfalls vier Monate später konnte die CDU davon ein einziges Pünktchen Vorsprung retten. Wie es anders herum gehen kann, zeigte die Berlinwahl 2011: Als die Grünen mit Renate Künast im Frühjahr erst einmal ins Rutschen kamen, war ihr Niedergang von 30 auf 17 Prozent nicht mehr aufzuhalten.